Ich biege rechts ab Richtung Westen, Richtung Frankreich, Elsaß, Mulhouse. Am Horizont das Vogesengebirge, das parallel zum Schwarzwald entlang des Rheins verläuft.
Ich biege rechts ab Richtung Baguette, Quiche, Crossaint, Atomstrom, Renault, Citroen, Peugot, französicher Gastfreundschaft und Meer.
Ich biege rechts ab in ein Land dessen Sprache ich nicht mächtig bin – etwas Neues wartet dort.
Ich biege rechts ab und eine starke Prise weht mir gegen die Stirn.
Ich befinde mich jetzt auf dem Eurovelo 6 (www.eurovelo.com), einem von vielen Europaradwegen, der sich entlang des Rhein-Rhone-Kanals schlängelt. Gleich nach der Grenze steht eine Kanone Richtung Osten gerichtet, die an eine Schlacht im 2. Weltkrieg erinnert. Der geostrategisch interessante Ort der Brücke über den Rhein war 1943 stark umkämpft. In 6 Tagen wurden 4000 Granaten u.a. mit diesem Geschoss abgefeuert.
Zahlreiche Angler trifft man Rande des Gewässers, die einem ein Lächeln und „bon jour“ zuwerfen. Das Navigationshirn kann hier bedenkenlos ausgeschalten werden, da der Weg fast ausschließlich am Wasser verläuft. Zugleich kann man die Flora und Fauna fernab der Straße genießen – Fischreiher, Eichhörnchen, Fische, Vögel – wenn die Sonne den teilweise mäandernden Kanal am Morgen mit ihren starken Strahlen erobert. Der Rhein – Rhone – Kanal dient ebenfalls als Verbindung zwischen Mittelmeer und Nordsee. Viele fahren hier nicht nur mit ihren Booten. Sie leben dort – Grill, Kühlschrank, Bett, Fahrrad, Blumen, alles ist an Deck. Da kommt mir meine Kutsche gar nicht mehr so groß vor.
Psychologisch befinde ich mich absolut im Aufwand. Das Wetter und die Strecke sind sehr gut, das soll auch noch eine Weile so bleiben. Soeben habe ich 100km Tagesmarke geknackt. Normale Dinge wie ein Brunnen, ein Badeweiher, Essen, ein schattiges Plätzchen, ein kühler Schluck Wasser werden zu etwas Besonderem. Die Tage ähneln sich. Da treffe ich kurz vor Chalon sur Saone Jakob, der mit dem Rad untwergs nach Santander zum Wellen reiten ist. Da kein Platz mehr im Auto von seinen Freunden war, hat er spontan entschlossen per Velo den Weg mit einigen Tagen Vorsprung auf sich zu nehmen. Wir werden zwei Tage miteinander unterwegs sein. Zusammen radeln wir nun nach Süden entlang der Rhone. Lyon liegt bei starken Gegenwind vor uns, sodass man sogar bei Bergabfahrt noch treten muss um nicht an Geschwindigkeit zu verlieren. In Lyon wird der 1000ste Kilometer gefahren. Wir erleben eine schöne Zeit: lauschen Mittags einer Schulorchester Generalprobe in einem kleinen Ort, finden einen schönen Ort zum Übernachten bei einer alten Kneipstätte, ein stummer weist uns den Weg, werden bei der Mittagshitze mit einem bezauberten Brunnen überrascht und wohnen kurzzeitig einer Hochzeit bei.
Ich fahre entlang der Rhone durch alte französische Dörfer. Hier steht die Zeit still. Am Mittag bei hohen Temperaturen scheinen die Dörfer ausgestorben zu sein. Weiter geht es vorbei an Weinfeldern, an Felder mit Sonnenblumen, Kürbisen und Äpfeln. Immer weiter Richtung Süden, Richtung Mittelmeer. Da treffe ich Tobias und Simon, die gerade Pause machen und auf dem Weg nach Gibraltar sind. Die Beiden haben ihrem Radelprojekt noch einen sinnvollen Zweck beigefügt. Sie radeln für Flüchtlinge. Auf ihrer Facebookseite „Tour4refugees“ kann man dafür spenden. Vor Avignon flankieren auf den Anhöhen kleine Burgruinen die Gipfel. Angekommen in Avignon nehme ich einen Gang heraus. Die engen, kühlen Gassen, die historische Innenstadt sowie das Universitätsgelände laden für einige Stunden ein. Entspannt radle ich aus der Stadt, als mir plötzlich zwei Speichen reisen. Ich muss an der stark befahrenen Straße vor einem Anwesen mit einem Eisentor halten. Das Prozedere dort dauert etwas länger, da die Spur des Rad wieder neu justiert werden muss. Nach einigen Minuten gesellen sich zwei agile Hunde des Anwesens zu mir und bellen im Chor bis ich fertig bin. In der nächsten Ortschaft Tarascon findet sich ein Fahrradladen der mir weiterhelfen kann und die wacklige Fahrt ist zu Ende. Am nächsten Tag nach dem Frühstück wartet allerdings schon wieder eine Reparatur auf mich – Platten Nr. 1.
Heute werde ich in Beuauduc ankommen, das im Nationalpark der Camargue liegt. Der erste Kitespot, der erste Meerkontakt. Dazwischen liegen noch 90km. Da der Strand sehr abeschieden ist verfahre ich mich einige Male und werde von Mückenschwärmen heimgesucht. Viele Schlaglöcher zieren den Weg und er fragt mich nochmal ob ich wirklich ankommen möchte. Am Abend ist es geschafft. Die Flamingos in den Salzbecken, das Meer und der Sonnenuntergang entschädigen für alle Anstrengungen, die bisher auf der Route lagen. Viele intensive Passagen ziehen am inneren Auge nochmals vorbei.
Die Zeit in Beauduc ist erholsam, kontaktreich und windig. Manchmal etwas zu windig, da sandfreies Essen fast nicht möglich ist. Die meisten Wassersportler rücken hier mit ihrem Bus an, da keine Versorgung mit Wasser und Lebensmittel geboten ist. Am Lagerfeuer, am Mittagstisch oder beim Kaffee lernt man schnell neue Leute kennen. Die gegenseitige Unterstützung in den Tagen ist grandios. Der örtlich Wind Mistral scheint mit mir angereist zu sein. Er schenkt uns vier windreiche Tage mit einem Grinsen im Gesicht. Unweit von Beauduc mündet die Rhone nach ihrem langen Weg nach Süden vom Genfer See ins Meer. Unser Weg wird sich trennen, da es für mich nach Westen weiter geht.
Hier gehts zur bisher gefahrenen Route: https://windtrampdotorg.wordpress.com/route/?preview=true