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Auf der Suche nach dem Zeitmaß

Die Fahrbahn ist angenehm eben und breit, sodass ein relativ entspanntes Dahingleiten möglich ist. Was macht man beim tagelangen geradeaus Fahren? Es kommen Gedanken an die Vergangenheit und die Zukunft auf. Gedanken an die Kindheit, die Jugend, die Ausbildung und das Arbeitsleben sowie an die kommenden Länder und auch an die Zeit nach der Reise. Dieses Gedankenkonglomerat speist sich aus den Pedaltritten und dem zeitlosen und rollenfreien Szenario als Reisender. Losgelöst von alten Wertemustern wird die Umwelt sehend und bewertend erfahren. Man sieht z.B. unter welchen Bedingungen die Bevölkerung das Leben bewältigt oder welchen täglichen Rhythmus die Einheimischen folgen. Das bietet die Möglichkeit unbekannte Wertvorstellung zu erfahren. Die Frage ist nur, wieviel von dem wertvoll Erfahrenen, kann man in seinen Alltag mitnehmen?

Und dahinradelnd erinnere ich mich an das Buch ‚Eine Landkarte der Zeit‘ von Robert Levine zurück – wie Kulturen mit Zeit umgehen. Ein Merkmal der heutigen Gesellschaften in Industrienationen ist, das man in immer kürzeren Zeiteinheiten denkt – Zunahme der Schrittgeschwindigkeit in Fussgängerzonen, Coffee to go, Kommunikationstakt, Anzahl an Wohnungsumzügen, Firmenzugehörigkeiten, Firmenübernahmen aus monetären Gründen oder in extremer Sicht Transaktionsdichten am Aktienmarkt.

Wohin führt dieser Beschleunigungsgeist? Die letzten eineinhalb Jahre vergingen aus meiner Perspektive langsam im Vergleich zu den Jahren zuvor. Ich lebte weitestgehend ohne Uhr oder zeitlichen Plan und bewegte mich mit dem Rad hauptsächlich langsam fort. Vielleicht vergeht die Zeit auch so schnell, da wir uns so schnell bewegen, an vielen Orten gleichzeitig (digitale Kommunikation) sind und die Achtsamkeit verlieren? Allerdings, so viel ist sicher, werde ich nicht ewig das Fahrrad durch die Gegend bewegen können. Also was kann ich nun mitnehmen von der Zeit auf dem Rad?

„Die Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit“ sagt ein kenianisches Sprichwort. Der Zeit können wir uns nur schwer entziehen. Im Zen-Buddhismus wird durch extreme Verlangsamung der Zeit eine ‚Zeitlosigkeit‘ erfahren und ob nach dem Tod eine Zeitvorstellung existiert, wissen wir nicht. Sonnenauf- und untergang, die Kraftreserven, Motivation und der Kilometerzähler sind meine hauptsächlichen Taktgeber. Manchmal ertappe ich mich dabei ein etwas komisches Gefühl zu haben, wenn der Kilometerzähler nicht über 60 ging. Zugleich denke ich, welch ein Unfug. Ist es nicht der Austausch mit den Einheimischen am Strassenrand, in den Dörfern, am improvisierten Imbissstand anstatt sein Pensum zu fahren und der linearen abendländischen Zeitauffassung nach zu kommen? Ein Überbleibsel aus der Leistungsgesellschaft? Und zugleich verdanke ich dem Leistungsgedanken die Wirtschaftskraft und somit die Möglichkeit des Reisens. Inwieweit erscheint das Pläne und To-do-Listen abarbeiten, die sequentielle lineare Zeitauffassung allerdings als sinnvoll?

Was hat jeder Einzelne und die Gemeinschaft von einer Zunahme der Wirtschaftskraft, wenn man sich so fühlt als würde einen die Zeit wie Sand durch die Hand gleitet, wenn man keine Zeit für seine Familie, Kinder oder Freunde hat oder keine Zeit ein interessantes Buch zu lesen?

Nichts. Letztendlich ist dieser Umstand mittel- und langfristig eine Gefährdung der individuellen Gesundheit sowie der Demokratie, der Gestaltung der Gesellschaft. Der Wettstreit von Argumenten, so wie die alten Griechen Politik verstanden, verliert, da der Stellenwert andere Sichtweisen zu betrachten abnimmt.

Levine, schreibt in seinem Buch davon, dass in Schwellen- und Entwicklungsländer ein anderes, sogenanntes zirkuläre Zeitverständnis herrscht. Etwas, sich Wiederholendes oder zyklisch Wiederkehrendes. Diese Nichtpriorisierung der Zeit erfährt man in Mexiko.

Wir alle sind abhängig von der Zeit. Allerdings nehmen wir die Zeit unterschiedlich wahr. Insofern bin ich mit dem Fahrrad auf einer universell- individuellen Suche nach dem Zeitmaß. Unterschiedliche Zeitauffassungen stellen in erster Linie eine Bereicherung für uns dar (siehe F. Popp, Die unterschiedliche Wahrnehmung der Zeit). Wenn wir immer nur langsam leben würden, wären wir mit Sicherheit auch nicht glücklich. Vielleicht ist es also der Wechsel ‚mal im Schritt, mal im Trapp‘ oder ’sich kreisend Fortbewegen‘ ?

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