
Die nächsten Tage wird es auf verschieden Art und Weise ab- und aufwärts gehen. San Cristobal de las Casas auf über 2000 Höhenmeter gelegen, verlasse ich mit einem flauen Magen. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass sich die Darmflora mit jedem weiteren Tag dort, verschlechterte, aufgrund der schlechten Wasserqualität. Es musste irgendwann auf der Reise so kommen, dass der Magen streikt. Der Radltag nach Chiapa de Corzo gestaltet sich einfach. Nachdem die Straße einem über eine kleine Anhöhe aus dem Tal von San Cristobal führt, geht es nur noch in eine Richtung – abwärts. 1800m bergab oder von einer dünnen, kühlen und trockenen zur warmen und dicken Luft. Es ist herrlich, unbeschwert den Berg hinunter zu rasen. In 45 Minuten Abfahrt verschleudere ich die in 3 Tagen erradelten Höhenmeter und dabei nehme ich meine nicht vorhandene Leistungsfähigkeit nicht wahr. Pünktlich zur letzten Bootsfahrt durch den Sumidero-Canyon, komme ich in Chiapa de Corzo an. Bis zu 1000m hohe und beeindruckende Felsflanken schauen senkrecht in den Grijalva Fluss hinab.

Am nächsten Morgen fühlt sich der Magen besser an. So geht es schnurstracks Richtung Guatemala entlang des Flusses Grijalva. Man wäscht im Fluss oder benutzt denselben aus gewichtsreduzierende Transportmöglichkeit mit dem Boot. Die Fahrt wird von weiteren Straßensperren begleitet, bei denen ein Nagelbrett auf dem Weg zentriert wird und Dorfbewohnern mit Holzknüppeln in der Hand Spalier stehen. Glücklicher- aber auch unverständlicherweise werde ich, als Gringo, ohne Mautabgabe immer durchgewunken. Richtig fit fühle ich mich bei der enormen Hitze nicht. Der Magen drückt. Mehr Ruhepausen und Schnapszufuhr zur Abtötung der Bakterien vor der Nachtruhe versprechen nur geringe Abhilfe. Im kleinen mexikanischen Dorf Vicente Guerrero flüchte ich in den Schatten einer Wohnungshauswand. Dort sitzend lädt mich der Hausherr zu einem Teller Essen ein, den ich, aufgrund des Magens, leider dankend ablehnen muss. Sein Nachbar erkundigt sich ebenfalls nach mir und dem Fahrrad und empfiehlt mir einen nicht weit entfernten Schlafplatz an heißen Quellen namens Banos de Carmen aufzusuchen. Gesagt getan, planscht man einen Steinwurf entfernt in herrlich warmen Thermalwasser bis die Finger runzlig sind.

Am nächsten Tag läuft der Drahtesel bis zum Mittag relativ flott dahin. Nach einer ausgiebigen Mittagspause setzte ich die Fahrt fort. Ein moderater Gegenwind verschafft eine angenehme Abkühlung in der Nachmittagshitze. Am Straßenrand schufften Feldarbeiter. Die Wirkung der ausgedehnten Pause verpufft nach etwa einer halben Stunde und ich falle zusammen wie ein Kartenhaus. Neben einer Tankstelle liege ich im Schatten eines Baumes und bin mir im Klaren darüber, heute nicht mehr weiter fahren zu wollen. Wieder bei Kräften erkundige ich mich beim Tankstellenbesitzer nach einem Platz für das Zelt. In einem Nebengebäude findet sich eine Aufstellmöglichkeit. Einziger Haken, der Betonbau ist dermaßen aufgeheizt von der Sonne, dass ich die Nacht mehr neben als im Zelt verbringe. Am Morgen schleppe ich mich zum nächsten Dorf und quartiere mich anfänglich für eine Nacht, aus der später vier werden, ein. Im Zimmer angekommen schlafe ich sofort ein und übergebe mich danach aus allen Körperöffnungen. Zeit zum Handeln! In der Dorfapotheke wird mir, über dem Wohnzimmersofa der Besitzerin, umgehend eine Spritze in meine 5-Buchstaben gerammt. Isotonische Getränke helfen kurzzeitig bevor diese von der oralen Diarrhoe erfasst und dem Weltlichen übergeben werden. Antibiotika und andere Medikamente halte ich nach dem Apothekenbesuch für die kommende Woche in der Hand. Erzählenswert ist allerdings, dass mich die Apothekerin beim Anblick sofort behandelt hat und mich erst nach der Spritze, der Verabreichung der Getränke und Tabletten und einer ausgiebigen Siesta auf ihrem Wohnzimmersofa nach Geld gefragt hat!

Täglich mache ich kleine Fortschritte. In Francisco Villa, dem Dorf, in dem ich mich seit vier Tagen versuche aufzupeppeln, neigt sich meine Liquidität dem Ende entgegen. Die nächste Stadt mit einem Geldautomaten heißt Comitan und liegt etwa 40km und 1000 Höhenmeter entfernt. Da der Kreislauf nach 15-minütigen Spaziergängen relativ am Ende ist, erscheint es vernünftiger per Anhalter nach Comitan zu gelangen. Comitan überrascht mit vielen kleinen Geschäften, Cafes und sauberen Straßen und Parks. Gab es im Dorf meiner viertägigen Heimat überwiegend Fleisch, so erwartet mich hier eine größere Auswahl an Essbaren. Die Genesungsschritte werden täglich kräftiger. Bei einem guatemaltesischen Friseur tausche ich zu viel geratene mexikanische Pesos in die Währung Guatemalas (Quetzal) ein.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang hält ein sympathischer Typ mit einem Pick-Up am Imbissstand. Er bietet mir an mich über die Grenze zur nächsten Stadt in Guatemala (Huehuetenango) mitzunehmen, die ich sowieso ansteueren wollte und auf 2000 Höhenmeter liegt. Die Unklarheit über meinen tatsächlichen körperlichen Zustand gepaart mit den anstehenden Höhenmeter bewegen mich dazu einzuwilligen. Wir sitzen beide in seinem Auto und er erkundigt sich, ob ich meinen Reisepass mitführe. Bis zu diesem Zeitpunkt schätze ich seine Fürsorglichkeit. Auf die Frage warum wir nicht den normalen Weg zur Grenze fahren, erklärt er mir, dass dieser Weg kürzer sei und die Hauptroute, aufgrund von Zeremonien gesperrt ist. Wir passieren einen improvisierten Militärpunkt – es sitzen eine handvoll unmotivierte Soldaten am Straßenrand, von denen einer ein kurzes Gespräch mit uns führt. Nach einigen Minuten Fahrt erscheint ein Schild „Herzlich Willkommen in Guatemala“. Ich blicke nach links zu meinem Fahrer und glaube im falschen Film zu sein. „Wo sind wir“, frage ich ihn. Relativ locker antwortert er mir als Guatemalteser „kein Problem, der Weg ist sicher“. Umgehend halte ich ihm eine ordentlich Standpauke, was ihm einfällt mich über die Grenze zu schleusen und mir damit große Probleme bereit kann. Man hat schlechte Karten ohne offiziellen Einreisestempel als Ausländer in Zentralamerika aufzutauchen. Und während wir das Gespräch weiter führen kann ich immer noch nicht glauben, was gerade passiert ist. Ich bestehe darauf umzudrehen und er willigt ein mich zurück zu fahren. Wiederum passieren wir den Militärpunkt und werden in ein längeres Gespräch verwickelt. Im Geiste male ich mir bereits aus, was passiert, wenn jemand meinen ungestempelten Pass sehen möchte. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht! Wir werden durchgewunken. So schlafe ich diese Nacht, wie gedacht, neben dem mexikanischen Imbissstand.
Im höchsten Gang mit über 60 km/h geht es den Berg hinunter um möglichst viel Schwung für die anstehende Steigung aufzunehmen. Man endet im kleinsten Gang mit Schrittgeschwindigkeit an der nächsten Anhöhe. Diese Gegend um Huehuetenango eignet sich für ein umfangreiches Konditionstraining. In der Trainingslehre der Sportwissenschaft würde man das „intensives Intervalltraining mit lohnender Pause“ nennen.